- ukrainische Literatur
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die Literatur in ukrainischer Sprache. Die älteste Epoche der und L. ist im Wesentlichen identisch mit dem altostslawischen Schrifttum (russische Literatur) der Kiewer Zeit (Russland, Geschichte). Erst nach dem Untergang des Kiewer Reiches im 13. Jahrhundert ermöglichte die Herausbildung eigener sprachlichen Systeme des Ukrainischen, Russischen und Weißrussischen - neben dem vorherrschenden Kirchenslawischen - die Entstehung einer im engeren Sinn ukrainischsprachigen Literatur, deren wesentliche nationalsprachige Komponenten jedoch erst im späten 19. Jahrhundert hinzutraten. Die Entwicklung der und L. ist in besonderem Maße mit dem Schicksal der Ukraine verbunden, die vom 13. bis 16. Jahrhundert zum litauischen, ab 1569 zum polnischen und ab 1654 zum russischen Staat gehörte und keine dauerhafte staatliche Eigenständigkeit erlangen konnte.Der Tatareneinfall 1237-40 und die litauische und polnische Herrschaft verursachten den fast vollständigen Stillstand der literarischen Entwicklung; die Literatur dieser Zeit ist fast ausnahmslos eine kirchenslawisch-ukrainische Übersetzungs- und Chronikliteratur. Erst im 16. Jahrhundert gaben westeuropäische Einflüsse und der Widerstand der orthodoxen Ukrainer gegen die Union mit der römisch-katholischen Kirche den Anstoß zu einer Wiederbelebung des Schrifttums. So findet man im 16. und 17. Jahrhundert ein reiches religiös-polemisches Schrifttum um die Union mit Rom in ukrainisch-kirchenslawischer, lateinischer und polnischer Sprache. Mittelalterliche Denk- und Lebensformen vertrat der Athosmönch Iwan Wyschenskyj (* um 1550, ✝ um 1620). Die kirchenslawische Sprache kodifizierte erstmals Meletij Smotryćkyj (* 1578, ✝ 1633). Die häufigen Kämpfe mit den Krimtataren, Türken und später auch Polen begünstigten die Pflege des Heldenliedes (Duma). Die kurze Epoche staatlicher Selbstständigkeit unter dem Hetman B. Chmelnizkij und die länger dauernde relative Autonomie des ukrainischen Kosakentums unter polnischer und später russischer Herrschaft, wie sie in der anonymen »Istorija Rusow« (18. Jahrhundert, veröffentlicht 1848) gefeiert wurde, bildeten neben der Folklore eine nie verloren gegangene Basis für die ukrainische nationale und sprachliche Eigenständigkeit. Der verspätete Barockdichter und Philosoph H. S. Skoworoda verarbeitete westliche Anregungen zu einem eigenwilligen, auch die Mystik umfassenden System.Die neuere und L. begann im Zeichen der allgemeinen nationalen Bewusstwerdung in Osteuropa Ende des 18. Jahrhunderts. Bahnbrechend wirkte I. P. Kotljarewskyj, der durch seine klassizistische, in der ukrainischen Volkssprache geschriebene »Aeneis«-Travestie (»Eneida«, 1798) die Entstehung der modernen ukrainischen Schrift- und Literatursprache entscheidend förderte. Ihm folgten der Balladen- und Fabeldichter Petro Petrowytsch Hulak-Artemowskyj (* 1790, ✝ 1865) und der zum Teil noch Russisch schreibende Novellist H. F. Kwitka-Osnowjanenko, der als Begründer der neueren ukrainischen Prosa gilt.In den 30er- und 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts bildeten sich national-romantische Dichtergruppen um die kulturellen Zentren Kiew, Lemberg und Charkow. Von großer Bedeutung wurde die 1846 gegründete geheime Kyrillos-Methodios-Gesellschaft, in der sich nationale, panslawistische und soziale Bestrebungen verbanden, wie sie T. H. Schewtschenko, der bedeutendste ukrainische Dichter, in vollendeter Form zum Ausdruck brachte. Zu seinem Kreis gehörten auch der Schriftsteller und Historiker M. I. Kostomarow und der Dramatiker, Prosaist und Lyriker P. O. Kulisch. Markyan S. Schaschkewytsch (* 1811, ✝ 1843) trug durch seine romantisch-historische und reflexive Lyrik zur literarischen Wiedergeburt der ukrainischen Volkssprache Galiziens bei.Die offizielle russische Reaktion auf diese national-ukrainische Bewegung waren ab 1845 eine noch strengere Zensur mit wiederholtem Druckverbot für ukrainischsprachige Publikationen (1863, 1876-1906, 1914-17) und eine verschärfte Russifizierungspolitik, durch die die junge und L. in ihrer weiteren formalen und inhaltlichen Entwicklung und Ausbreitung stark behindert wurde. Allein in der Westukraine, die mit ihrem kulturellen Zentrum Lemberg zu Österreich gehörte, konnte sie sich freier entfalten. Unter Beibehaltung folkloristisch-ethnographischer Themen gelang die Einbeziehung realistischer Thematik und Stilistik, teilweise bis zu sozialen Fragestellungen, so bei Iwan Semenowytsch Netschuj-Lewyzkyj (eigentlich I. S. Lewyzkyj, * 1838, ✝ 1918), der in seiner Prosa über das ukrainische Dorf vor und nach der Aufhebung der Leibeigenschaft sowie über die Geistlichkeit und die neue nationale Intelligenzija die ukrainische Eigenständigkeit betonte, bei dem Erzähler P. Myrnyj mit psychologisch vertieften Romanen und bei dem gelehrten Schriftsteller und Übersetzer B. D. Hrintschenko, der sich in realistischen Dramen und Erzählungen mit dem Problem des ukrainischen Nationalismus und des Sozialismus in der bäuerlichen Welt auseinander setzte; für die Dorferzählung wurde Marko Wowtschok führend. Den Höhepunkt dieser Epoche bildet das Schaffen des auch wissenschaftlich tätigen Westukrainers I. J. Franko, der sich vertiefter psychologischer Analyse und aktueller Problematik zuwandte.Der ständige Kampf gegen die Russifizierung und die enge Verflechtung mit den politisch-nationalenen Tendenzen erschwerten das von der Moderne geforderte Bekenntnis zur »reinen Kunst«. Die und L. übernahm viele der Neuerungen, die sich in der westlichen und russischen Dichtung durchgesetzt hatten (Impressionismus, artistisch verfeinerte Verstechnik, kosmopolitische Neigungen, Vorliebe für krankhafte Seelen- und Geisteszustände), suchte sie aber mit den traditionellen Methoden zu verbinden. Die herausragenden Autoren dieser Übergangsepoche - seit 1904 war auch in Russland ein dynamischeres literarisches Leben wieder möglich - waren der Prosaiker M. M. Kozjubynskyj und die Dramatikerin Lessja Ukrajinka, die die und L. aus dem Bereich des Volkstümlich-Provinziellen zu europäischem Rang führten, sowie der Lyriker O. Oles, der Anregungen der Moderne aufgriff.Einen erneuten Aufschwung nahm die und L. nach 1917. In den 20er-Jahren wirkten gleichzeitig Strömungen wie Impressionismus (Hryhorij M. Kossynka, * 1899, ✝ 1934; Mychajlo Iwtschenko, * 1890, ✝ 1939; Walerjan P. Pidmohylnyj, * 1901, ✝ 1941; Jewhen P. Pluschnyk, * 1898, ✝ 1936), Symbolismus (P. H. Tytschyna), Futurismus (Mychajlo S. Semenko, * 1892, ✝ 1938), Kiewer Neoklassizismus (M. T. Rylskyj; Mykola Serow, * 1890, ✝ 1941) und Neuromantik (Wolodymyr S. Sosjura, * 1898, ✝ 1965). Themen waren - neben der Bürgerkriegsromantik - v. a. die Kritik an der russophilen Parteibürokratie und den Auswüchsen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP), die Hungersnot, die Arbeit der Partei. Besonders aktiv war hier die linke Avantgarde der Charkower national-kommunistischer Autoren mit Wassylij Blakytnyj-Ellanskyj (* 1894, ✝ 1925), Mykola Chwyljowyj-Fitiljow (* 1893, ✝ 1933), Mykola Kulisch (* 1892, ✝ 1942), J. I. Janowskyj und Arkadij Ljubtschenko (* 1899, ✝ 1945). In den stalinistischen Verfolgungen kamen zahlreiche ukrainische Schriftsteller ums Leben (Semenko, Kossynka, Pidmohylnyj, Serow, Kulisch u. a.), verstummten (Iwtschenko) oder passten sich der offiziellen Literaturdoktrin des sozialistischen Realismus an (Tytschyna, Rylskyj).Der Zweite Weltkrieg, die Vereinigung der Westukraine mit der Ukrainischen Sowjetrepublik und die damit verbundene Sowjetisierung sowie die anschließenden Jahre des Wiederaufbaus erweiterten - verbunden mit einer unbedeutenden Lockerung der Parteizensur - die Thematik. Der Krieg und die Zeit der deutschen Besatzung (Janowskyj; O. T. Hontschar; Hryhorij M. Tjutjunnyk, * 1920, ✝ 1961), die Kollektivierung der Landwirtschaft (Andrij W. Holowko, * 1897, ✝ 1972) und der Sieg der Arbeiterschaft (Petro J. Pantsch, * 1891, ✝ 1978; Iwan L. Le, * 1895, ✝ 1978) waren bevorzugte Themen. Mit historischen und patriotischen Dramen trat O. J. Kornijtschuk hervor.Im »Tauwetter« nach 1956 wurde von einigen Autoren vorsichtig auch das Thema des Stalinterrors behandelt (Hontschar; Mychajlo P. Stelmach, * 1912, ✝ 1983). Besinnung auf die nationale Eigenständigkeit und Geschichte, unkonventionelles Heranwagen an alle Fragen des menschlichen Seins und assoziations- und metaphernreiche Ausdrucksweise kennzeichnen die 60er-Jahre, in der Lyrik Lina W. Kostenko (* 1930), Iwan F. Dratsch (* 1936), W. S. Stus; in der Prosa Wolodymyr Drosd (* 1939), Jewhen P. Huzalo (* 1937), Walerij O. Schewtschuk (* 1939). Diese »Tauwetter«-Periode endete Anfang der 70er-Jahre mit Repressionen gegenüber den mutigsten Vertretern dieser Dichtergeneration (u. a. Stus), deren Versuche künstlerische Eigenständigkeit und nationalen Fühlens oft als »bourgeoiser Nationalismus« diffamiert wurden.Die nicht systemkonformen Autoren zogen sich aus der offiziellen Literatur zurück und wirkten im Untergrund, fanden jedoch außerhalb enger Literatenkreise kaum Beachtung; erst Ende der 80er-Jahre wurden ihre Werke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Die Lyrik von Wassyl Holoborodko (* 1946) und Mykola Worobjow (* 1941) sowie die in den Straflagern und in der Verbannung entstandenen Gedichte von Stus, Iwan Switlytschnyj (* 1929), Jewhen Swerstjuk (* 1928) u. a. greifen auf Symbole und Metaphern aus der Geschichte und Religion des ukrainischen Volkes zurück und sorgen so für ein neues Bewusstsein nationaler Identität.Der Reaktorunfall von Tschernobyl (1986), der auch literarisch verarbeitet wurde (Dratsch; Wolodymyr Jaworiwskyj, * 1942; Mykola Olijnyk, * 1923), trug erheblich dazu bei, einen Rückbesinnungsprozess auszulösen. Damit geht - anstelle der bis dahin aufgezwungenen ideologischen und stilistischen Einheitlichkeit - eine Vielfalt von literarischen Strömungen einher, die ästhetischen Werte und hermetische Abgeschlossenheit ebenso umfasst wie Mythologie und Diesseitsbezogenheit, v. a. Jurij Andruchowytsch (* 1960), Wassyl Herasymjuk (* 1956), Holoborodko, Ihor Rymaruk (* 1958) und Worobjow.Der eigentliche Durchbruch zur kulturellen Wiedergeburt gelang jedoch erst Ende der 80er-Jahre, wobei das Organ des ukrainischen Schriftstellerverbandes »Literaturna Ukrajina« führend war. Diese Wochenzeitung publizierte eine Rehabilitierungsrubrik und machte so das Schaffen totgeschwiegener, umgekommener und exilierter Autoren bekannt. Neben den Verfemten der Breschnew-Ära waren dies auch ältere Autoren wie der Sozialist Wolodymyr Wynnytschenko (* 1880, ✝ 1951) oder der Avantgardist Mykola Chwylowyj (* 1897, ✝ 1933). - Auch die Literaturwissenschaft wurde von der nationalen und kulturellen Renaissance erfasst und erfuhr eine generelle Umorientierung: Arbeiten, deren Verfasser für eine eigenständige ukrainische Literaturgeschichte eingetreten waren und als »Volksfeinde« galten, werden jetzt zugänglich gemacht (M. Hruschewskyj, D. Tschižewskij u. a.). - Seit 1988 engagieren sich die ukrainische Schriftsteller vielseitig im Prozess der ukrainischen Wiedergeburt. Sie haben eine Gesellschaft der ukrainischen Sprache gegründet, nehmen sich ökologische Probleme an (Bewegung »Grüne Welt«) und haben die demokratische Bewegung »Ruch« ins Leben gerufen.M. Voznjak: Istorija ukraïns'koï literatury, 3 Bde. (Lemberg 1920-24, Nachdr. Den Haag 1970; teilweise dt. Gesch. der u. L., Bd. 2: 16.-18. Jh., 2 Tle., 1975);M. S. Hruševs'kyj: Istorija ukraïns'koï literatury, 5 Bde. (Kiew 1923-27, Nachdr. New York 1959-60);Ukrains'ki pys'mennyky: biobibliohrafičnyj slovnik, hg. v. O. I. Bileckyj, 5 Bde. (Kiew 1960-65);Istorija ukraïns'koï literatury, hg. v. O. I. Bileckyj,: 2 Bde. (Neuausg. ebd. 1987-88);Istorija ukraïns'koï literatury, hg. v. B. S. Burjak u. a., 8 Bde. (ebd. 1967-71);Panorama najnovišoi literatury v URSR. Poezija, proza, krytyka, hg. v. I. Koszeliwec (München 21974);Z. S. Golubeva: Novi grani žanru. Sučasnyj ukraïns'kyj radjans'kyj roman (Kiew 1978);H. M. Udovyčenko: Frazeolohičnyj slovnyk ukrajins'koj movy, 2 Bde. (ebd. 1984);Pys'mennyky Radjans'koji Ukrajiny, 1917-1987. Biobibliohrafičnyj dovidnyk (ebd. 1988);G. S. N. Luckyj: Literary politics in the Soviet Ukraine: 1917-1934 (Neuausg. Durham 1990);Die Ukraine im Spiegel ihrer Lit. Dichtung als Überlebensweg eines Volkes, hg. v. A.-H. Horbatsch (1997);S. Simonek: Ivan Franko u. die »Moloda Muza«. Motive in der westukrain. Lyrik der Moderne (1997).
Universal-Lexikon. 2012.